THOMAS MUSEHOLD, THOMAS MUSEHOLD - IN DER BLAUEN MILCH DES ACHATS
5. APRIL - 16. JUNI 2019
„Im Honig oder in der blauen Milch des Achats skizzieren die Dendriten häufig Landschaften: Hügel, Täler oder Schluchten, stets von Tannen bestanden, die die Entfernung winzig macht und die an ihren zugespitzten Umrissen und ihren niederen, ein wenig aufwärts gebogenen Ästen zu erkennen sind. In die glühende Dämmerungen des Karneols zeichnen sie eine lückenlose schwarze Linie; im Chalzedon hingegen gruppieren sie sich zu lichten Hainen.“
Was der französische Soziologie und Philosoph Roger Caillois (1913 – 1978) hier zu Wort bringt, sind hochpräzise Naturerscheinungen, die er in Gesteinsgebilden zu entdecken scheint. In seiner 1966 erschienen Schrift „Steine“ entwickelt Caillois einen methodologischen Ansatz zur sinnlichen Interpretation komplexer mineralogischer Sedimente. Im Bezug auf die Epoche einer intensiven Sammel- und Deutungsleidenschaft von Steinen in der chinesischen Kultur, entnimmt er ihnen die sublime Handschrift der Natur, ihre Dynamik des Lebendigen, eingefroren als Momentaufnahme für die Ewigkeit. In seinen Betrachtungen durchdringt er die Syntax der leblosen Objekte und entwickelt sie zu Zeugen einer schöpferischen Ganzheit. Doch bei aller Genauigkeit ist es ihm nicht an die rationale Rekonstruktion gelegen, als mehr um die Erschaffung eines phantastischen Wissens, welches einen Erfahrungsraum für das Mystische und die Imagination öffnet.
Das Werkzeug der Sprache füllt eine Lücke zum Verständnis der Dinge, deren Sinnhaftigkeit wohl sonst nur im „Schönsein“ bestehen würde. Eben jenen Zwischenraum von Sprache und Erscheinung spürt Thomas Musehold mit seinen Zeichnungen und Skulpturen nach, die wie ein objektgewordenes Oxymoron natürliche Artefakte oder artifizielle Natur darstellen wollen. Musehold, der zunächst Linguistik mit dem Schwerpunkt Semiotik studiert, beschäftigt sich fortführend mit dem Thema von Deutung und Interpretation des Unbekannten und macht sich dabei das System der Sprache unterschiedlich zu nutze: Etwa, wenn er für vergangene Arbeiten einen Biologen beauftragt, seine organischen Skulpturen mit der wissenschaftlichen Fachsprache zu analysieren. Sprache erscheint hier den etymologischen Ursprung des Worts „begreifen“ bildhaft zu reproduzieren. Indem die Oberfläche Stück für Stück durch das Wort abgetastet wird, meint man, sich dem Objekt geistig anzunähern. Wie Caillois betreibt Musehold ein Spiel der Objektifizierung, der die Idee zugrunde liegt, den Dingen Ihre spezifische Sinnhaftigkeit zu entlocken, so fremd sie auch erscheinen mögen.
Zuletzt bedient sich Museholds bildhauerischer Prozess des Faktors des scheinbar Zufälligen, bei dem er unterschiedlichste Fundstücke, wie etwa religiöse Kleinskulpturen, scannt, von einem 3D-Renderprogramm verfremden lässt, um sie anschließend als 3D Druck wieder zu präsentieren. Wie etwa das Wachstum von Kristallen unvorhersehbar erscheint, aber eigenen physikalischen Regeln folgt, ist der Prozess der Verfremdung einer algorithmischen Logik unterworfen, die ein vorab definiertes Ziel verfolgt, wie zum Beispiel das Begradigen aller im Objekt vorhanden Rundungen oder das Verschmelzen zweier Körper. Die Systematik dahinter gibt Rätsel auf. Da das Original in der Kopie selten ersichtlich wird, sind seine Arbeiten auch nicht auf die Erkennung dieser Divergenz hin ausgelegt, sondern verstehen sich als singuläre Werke. Durch Fragmentierung und Demontage des Vorbilds fragen die Werke eher nach der Möglichkeit den Erkenntnishorizont des Begreifens erweitern zu können. Besonders im Kontext der Ausstellung beginnt eine Art Zwiegespräch seiner autonomen Objekte. Museholds Präsentation auf Tischen, Spiegeln oder hier Schieferplatten, ruft eine Archivthematik wach, die die Werke in einen Sinnzusammenhang setzt und den Austausch sowie den Vergleich untereinander anregt.
Jonas Schenk